Statt Phrasen und Slogans: Adorno über die Bekämpfung des Antisemitismus

Theodor W. Adornos Vortrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ aus dem Jahr 1962 bestärkt mit dem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma das aufgeklärte Denken.

Leipzig. „Die Phrase, Antisemitismus habe in Deutschland ,keinen Platz’, ist von abgründiger Dummheit“, schreibt Jan Philipp Reemtsma. Wenn man „etwas sagen muss, gibt es eine Pflicht, nachzudenken und sich nicht der Dummheit und der Phrase gedankenlos und gleichzeitig mit selbsterbaulichem Tremolo zu überlassen“. Diese klaren Worte schreibt der Literatur- und Sozialwissenschaftler in seinem Nachwort zu Theodor W. Adornos Vortrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, der vor wenigen Tagen im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Adorno (1903–1969) beschreibt Mechanismen und Charaktere, die Antisemitismus möglich machen, zweifelt an Meinungsumfragen, denkt über Strategien nach. Der rund 50-seitige Text basiert auf einem Vortrag, den er 1962 vor Pädagogen gehalten hat, eingeladen vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Der daraus entstandene Tagungsband stand unter der Überschrift „Erziehung vorurteilsfreier Menschen“.

Antisemitische Gewalt in Leipzig oder Berlin

Man sollte den Text zunächst als Zeitdokument lesen, erklärt Reemtsma: „Der Antisemitismus im Nach-1945-Deutschland bekam Ende des Jahres 1959 eine alarmierende Gegenwärtigkeit. In Köln wurden am 24.12. eine Synagoge und ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus mit antisemitischen Parolen beschmiert.“

Die alarmierende Gegenwärtigkeit reicht in den Februar 2024. In Leipzig wurden Anfang Februar Porträts von Holocaust-Überlebenden in einer Ausstellung im und vor dem Hauptbahnhof beschädigt. Vor einer Woche wurde ein jüdischer Student in Berlin krankenhausreif geschlagen, die Polizei stuft den Fall inzwischen als antisemitisch ein und sieht einen Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt.

Ressentiments treten deutlich zutage auf Demonstrationen, an Universitäten, im Kulturbetrieb. Argwohn, Ausladungen und Bekenntniserwartungen vergiften das Debattenklima, Gewalttaten nehmen zu.

Die Frage ist nicht, ob es in Deutschland antisemitische Denkmuster gibt, sondern wie sie wirken. „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, zitiert Adorno einen Satz aus seiner „Minima Moralia“. „Sie dürfen nicht annehmen, der Antisemitismus sei ein isoliertes und spezifisches Phänomen.“

Überall dort, „wo man eine bestimmte Art des militanten und exzessiven Nationalismus predigt, wird der Antisemitismus gleichsam automatisch mitgeliefert.“ Aufgrund des offiziellen Tabus habe sich ein versteckter, ein „Krypto-Antisemitismus“ entwickelt, worin ein gefährliches Potenzial liege:

Das Tuscheln, „die nicht ganz offen zutage liegende Meinung war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheiten der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen.“

Adorno über Antisemitismus und Autoritätsglauben

Für Adorno führt dieser Krypto-Antisemitismus „von selbst auf den Autoritätsglauben“. Die „Verkoppelung des antisemitischen Vorurteils mit autoritätsgebundener Charakterstruktur und mit autoritären Mächten überhaupt“ ist sein zentraler Punkt.

Dass Adorno das Wort „Vorurteil“ wählt, welches das Problem des Antisemitismus nicht zu fassen vermag, sieht Reemtsma im Zusammenhang mit dem Titel der Konferenz und einer „Rücksicht auf die Einladenden“. Insgesamt mache der Vortrag „den Eindruck der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Das kommt der Verständlichkeit dieser Lektüre zugute.

Als ein Schlüssel-Phänomen nennt Adorno auf der Ersten Europäischen Pädagogen-Konferenz die „Struktur der Cliquen-Bildung in der Schule“. Werden Gruppen fast stets dadurch zusammengehalten, „dass sie gegen irgendwelche anderen sich richten, die nicht mitmachen dürfen“, sei dieses Phänomen „prinzipiell gleich gebaut wie das antisemitische“.

Wie in einem Mikrokosmos „bildet sich dann die Problematik der ganzen Gesellschaft ab“. Deshalb sei es wichtig, Kinder zum Sprechen zu bringen. Es „wäre am Ende eines der wichtigsten und anständigsten Mittel in der Abwehr von Antisemitismus, Ausdrucksfähigkeit insgesamt zu steigern und die Rancune gegen das Reden abzumildern“.

Feindlichkeit gegenüber dem Geist führt zu den „Hetzbildern gegen den Intellektuellen“, die „oft nur leise verschleierte Stereotypen des Antisemitismus sind“. Den könne darum nicht bekämpfen, „wer zu Aufklärung zweideutig sich verhält“.

Reemtsma sieht Aktualität des manifesten Antisemitismus

Adorno, der in der Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert war, zählt zu den wichtigsten Vertretern der „Frankfurter Schule“, als grundlegendes Werk der von ihr begründeten Kritischen Theorie gilt die Essaysammlung „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Max Horkheimer aus dem Jahr 1944.

Dort heißt es im Kapitel „Elemente des Antisemitismus“: „Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv.“

„Man sieht“, argumentiert Reemtsma, „wie die Lektüre, die in Adornos Vortrag zunächst das Zeitdokument sieht, in die Aktualität des manifesten Antisemitismus hineingezogen wird.“ Wer heute „gegen Slogans auf Slogans setzt, bleibt in der Arena, die der, den man bekämpfen will, gewählt hat.“

Lektüretipp: Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Suhrkamp Verlag; 86 Seiten, 10 Euro

Info: Am 12. März (19 Uhr) sprechen Ruben Gerczikow und Michael Kraske im Literaturhaus Leipzig über „Antisemitismus in Deutschland“ und was Gesellschaft und Politik dagegen unternehmen können, Informationen auf literaturhaus-leipzig.de

Quelle: https://www.lvz.de/kultur/regional/statt-phrasen-und-slogans-adorno-ueber-bekaempfung-des-antisemitismus-3L25IHFRGBHB5L6SJJ2E7KT6EI.html